Uneingeschränkte Empfehlung!
Sonus Eterna 4260398610014
1 CD • 59min • 2014
Künstlerische Qualität: 10
Klangqualität: 9
Gesamteindruck: 10
Woran sich entscheidet, ob der Name eines Musikers in aller Munde und in den großen Konzerthäusern präsent ist oder nicht, ob jemand ein Geheimtipp für Kenner bleibt oder ein Star wird, ist immer wieder kaum zu ergründen. So enttäuscht, wie ich immer wieder über das bin, was uns die großen Labels und Veranstalter als einzigartig verkaufen wollen, so sehr erstaunt es mich gelegentlich, wenn dann ein wirklich großer Musiker irgendwo quasi aus dem Nichts auftaucht und uns wirklich zu verzaubern und mitzureißen vermag mit der Tiefe und Makellosigkeit seines Vortrags. So geht es mir auch bei vorliegender Aufnahme.
Nun war ich hier nicht komplett überrascht, denn von Masha Dimitrieva hatte ich vor Jahren schon eine exzellente (bis heute die beste mir bekannte) Einspielung von Sonaten Nikolai Miaskowskys gehört, und auch in jüngerer Zeit auf historischem Instrumentarium bei der österreichischen Gramola Werke des Mozart-Zeitgenossen Ignace Pleyel, die sowohl hinsichtlich der Komposition als auch der Ausführung wirklich bemerkenswert sind.
Masha Dimitrieva, in Deutschland lebende Russin, hatte einst am Moskauer Konservatorium und dann in Hannover bei David Wilde studiert. Ihre entscheidenden Mentoren waren zwei zeitlose Vorbilder, deren Verständnis weit über das Pianistische hinausreicht: Conrad Hansen und Murray Perahia. Ihr Spiel erweist sich dieser Referenzen technisch und musikalisch als würdig.
Da sie überdies eine sehr intelligente, auch in Worten sehr gewandte und attraktive Persönlichkeit ist, muss ich mich wirklich fragen, wie es kommt, dass wir sie hier praktisch nie live zu hören bekommen, wo sie doch unbestreitbar eine Substanz zu bieten hat, derer es den meisten hochgepäppelten Jungstars und auch vielen altbekannten Tastenvirtuosen eklatant fehlt. Nun also hat Masha Dimitrieva eine CD mit dem Titel „Russische Märchen“ für das neu gegründete Label Sonus Eterna aufgenommen, auf der sie fünf der in Russland sehr beliebten Märchen Nikolai Medtners, 2 Préludes des mit Medtner eng befreundeten Sergej Rachmaninoff, den neun Miniaturen umfassenden Zyklus Satyre und Nymphen op. 18 von dem in Moskau geborenen, schweizerisch stämmigen Paul Juon und die sechs Caprices op. 43 von Anton Arensky präsentiert.
Insgesamt vier russischen Komponisten der späten Romantik wurde der Mantel eines „russischen Brahms“ umgehängt: Sergej Tanejew, Alexander Glasunov, Nikolai Medtner und Paul Juon. Jeder von ihnen hat seine eigene Sprache, und was sie eint, ist eine ehern romantische Haltung, die die Umbrüche der Moderne überdauerte. Medtners Märchen sind lyrische Erzählungen von wundervoller Eigenart, überwiegend sehr introvertierten Charakters, und stets von einer intimen Poesie durchweht (hier op. 20 Nr. 1, op. 26 Nr. 3, op. 42 Nr. 2, op. 51 Nr. 3 und das Vogelmärchen op. 54 Nr. 2 – vier der Stücke sind bezeichnenderweise in Moll), und Masha Dimitrieva durchdringt jedes der Stücke nicht nur mit kultiviertester Liebe zum Detail und zauberischer Klangalchimie, die keinen Moment in die Nähe selbstzweckhafter Exposition gerät, sondern auch mit einem klaren Gespür für die Formdramaturgie. Nicht weniger gelingen ihr die beiden Rachmaninoff-Préludes op. 23 Nr. 6 und op. 32 Nr. 5, in denen mühelose Brillianz und Leichtigkeit die selbstverständliche Voraussetzung für eine bezwingend schlüssige musikalische Darbietung fern jeglicher belehrenden Prätention bilden.
Den umfangreichsten Teil der CD bilden die Satyre und Nymphen von Paul Juon, veröffentlicht 1901 in Berlin. Juon, Sohn eines Graubündners, hatte in Moskau bei Tanejew und Arenski studiert, bevor er 1894-95 in Berlin bei Clara Schumanns Halbbruder Woldemar Bargiel, einem beachtlichen Schöpfer von Symphonischem und Kammermusik in der Nachfolge Beethovens, Mendelssohns und Schumanns, seine Studien abrundete. In späten Jahren lebte er in der Schweiz. Seine neun Miniaturen stehen zeittypisch zwischen gehobener Hausmusik und konzertantem Anspruch. Seine Sprache ist weniger singulär als diejenige Medtners oder gar Rachmaninoffs, doch immer auf handwerklich erstrangigem Level, durchaus inspiriert, sehr abwechslungsreich und pittoresk, und Masha Dimitrieva erweist sich hier als im Ausdruck äußerst vielseitige, immer frische und bei aller gewissenhaften Durchdringung der Strukturen spontane Musikerin, an der vor allem ein Zug jederzeit sofort ins Auge springt: Ehrlichkeit, Authentizität der Aussage. Die sechs Capricen von Anton Arensky, dessen Name vor allem aufgrund seiner Tschaikowsky-Variationen für Streichorchester zeitlos wurde, entstanden zwischen 1896 und 1901. Sie sind das am wenigsten bedeutende Œuvre dieser Zusammenstellung, jedoch von exquisitem pianistischen Reiz, und noch einmal kann man hier in unterschiedlichen Facetten Masha Dimitrievas mühelos perlendes, bei aller Innigkeit nüchtern klares Spiel bewundern. Ein sehr schön konzipiertes, wundervoll ausgeführtes Album, eine zauberhafte Hommage an die intimeren Aspekte der russischen Heimat der Künstlerin. Der Booklettext von Ulrich Kahmann ist recht ausführlich und instruktiv, der Klang könnte zwar etwas mehr räumliche Weite vertragen, transportiert aber zugleich jene entwaffnend unprätentiöse Aufrichtigkeit, die so bezeichnend für Masha Dimitrievas Spiel ist.
Uneingeschränkte Empfehlung!
Christoph Schlüren [17.12.2014]
Originalartikel bei „Klassik Heute“:
Russische Märchen (Sonus Eterna) – Klassik Heute (klassik-heute.com)
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