„Klassik Heute“-Rezension: Gordon Sherwood Piano Works Vol. I

Künstlerische Qualität:  10
Klangqualität:    7
Gesamteindruck:  10
Besprechung: 04.04.18

Sonus Eterna 37423
1 CD • 66min • 2017

Der 1929 geborene Amerikaner Gordon Sherwood hat den etablierten Musikbetrieb zeitlebens gescheut. Als sich für den von Mitropoulos geförderten
Gershwin-Preisträger des Jahres 1957 der Durchbruch zu nationaler Berühmtheit anzukündigen schien, brach er zu Studienaufenthalten nach Deutschland und Italien auf. Längere Zeit verbrachte er im Nahen Osten und in Kenia, bis er den Entschluss fasste, ungebunden durch die Welt zu reisen. Konsequent nahm er es auf sich, rund zwei Jahrzehnte lang seinen Lebensunterhalt als Bettler zu bestreiten, bis er 2005 in Bayern eine Bleibe fand. Vor seinem Tode im Jahr 2013 konnte er noch erleben, wie man begann, sein Werk zu entdecken. 143 Opuszahlen umfasst sein Schaffen, der Großteil davon ein noch ungehobener Schatz. So kann man es nur begrüßen, dass Masha Dimitrieva nun damit begonnen hat, das Klavierwerk Sherwoods auf CD zugänglich zu machen.
Sherwood war ein Komponist ohne ideologische Scheuklappen, der sich keinem Einfluss verschloss, wenn dieser ihn fesselte. Er hat viel von der Welt gesehen, und Anregungen aus den Kulturen der von ihm durchreisten Länder dankbar aufgegriffen. Auch schreckte er nicht davor zurück, einen populären Tonfall anzuschlagen.
Vom einen geben die vier Sonatinen op. 27 – inspiriert von französischer, spanischer, arabischer und indischer Musik – eine Kostprobe, vom anderen die fünf Stücke aus der Sammlung Boogie Canonicus, die außerdem seine Liebe zu Bach dokumentiert. In der Dance Suite op. 67 bietet der Komponist in konzentrierter Weise dar, was allgemein ein Grundzug seines Stiles ist: tänzerische Bewegung. Die Sonata quasi fantasia op. 78 basiert auf Themen, die in der Musikalisierung dreier Frauennamen ihren Ursprung haben. So verschieden die Anregungen zu den einzelnen Stücken gewesen sein mögen, die Musik wirkt erstaunlich homogen. Sherwood komponiert grundsätzlich tonal, wobei er eine ohrenfällige Liebe zu alterierten Akkorden und Skalen, und zur Verbindung entfernter Harmonien hegt. Dies verträgt sich wunderbar mit Boogie-Woogie und Blues wie mit der Musik ferner Länder, weshalb diese Einflüsse in Sherwoods Musik letztlich nicht als Exotizismen erscheinen, sondern als die unterschiedlichen Aspekte eines Personalstils. Sie sind ähnlich Teil des
Gesamtgefüges seiner Tonkunst wie die kroatischen und ungarischen Einschläge bei Haydn. Auch die Grundstimmung dieser Musik lässt mich an Haydn denken. Sie ist von einer Heiterkeit und Ausgeglichenheit erfüllt, wie man sie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht häufig antrifft: die Musik eines Mannes, der niemandem etwas beweisen muss, und der genau weiß, was er künstlerisch anstrebt und wie er es mit der sicheren Hand, auf die er sich jederzeit verlassen kann, gestaltet. Die Kompositionen sind übrigens auch nicht ausgedehnter als Haydnsche Klavierwerke: Keine der Sonatinen dauert länger als
sechs Minuten, und mit fünfeinhalb Minuten ist der Mittelsatz der Sonata quasi fantasia das längste Stück der vorliegenden Sammlung.
Masha Dimitrieva kann als Interpretin der Musik Sherwoods auf einer engen Zusammenarbeit mit dem Komponisten aufbauen. Sie hat ihn nicht nur in
seinen letzten Lebensjahren privat unterstützt, sondern ist auch Widmungsträgerin seines Klavierkonzerts, das sie im Jahr 2000 einspielte. Angesichts dessen verwundert die Stilsicherheit nicht, mit der sie nun seine Solostücke präsentiert. Ihre Tempi sind stetig und flüssig, ihr Anschlag abwechslungsreich, auch hat sie ein gutes Gespür für die Wirkung des
Rubatos, von dem sie maßvollen Gebrauch macht. Die klangfarbenreiche Musik ist bei ihr in besten Händen, auch angesichts der Aufnahmequalität.
Über den Klang dieser Scheibe ließe sich trefflich streiten. Man wähnt sich als Hörer direkt neben dem metallisch timbrierten Klavier sitzend, in einem kleinen Raum nahezu ohne Nachhall. Wie in einem Konzertsaal klingt dies nicht gerade, eher nach einer häuslichen Umgebung. Ich entscheide mich dafür, in diesem Klangbild kein Versehen, sondern einen Tribut an Sherwoods stillen Protest gegen das Establishment zu erblicken, kann aber letzte Bedenken dagegen nicht unterdrücken. Begleitet wird die CD, die erste Folge einer dreiteilig
konzipierten Reihe, von einem Text Christoph Schlürens, der auf profunde Weise über Leben, Werk und Ästhetik des Komponisten informiert.
Norbert Florian Schuck [04.04.2018]

Originalartikel bei „Klassik Heute“:
Gordon Sherwood (Sonus Eterna) – Klassik Heute (klassik-heute.com)


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