Neue Musikzeitung / NMZ
Ein Dialog zwischen Tradition und Moderne
Heinz Winbecks „Lebensstürme“ auf CD
Mit „Lebensstürme“ entdeckte das Label Sonus Eterna, geleitet durch Masha Dimitrieva, ein bedeutendes Werk der bayerischen Moderne und bringt es nach den ersten Aufführungen 2011 und 2012 erstmals einem größeren Publikum zu Gehör.
Autor: Oliver Fraenzke
Publikationsdatum 01.11.2024
Ausgabe 11/2024 – 73. Jahrgang
Heinz Winbeck: Lebensstürme
Basel Symphony Orchestra. Dennis Russell Davies (Dirigent), Martin Achrainer (Bariton), Maki Namekawa (Klavier), Sonus Eterna 37423
Heinz Winbeck steht zentral im bayerischen Kulturleben der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und des frühen 21. Jahrhunderts und ist doch ganz unbekannt geblieben. Lediglich 27 Kompositionen umfasst das Oeuvre des 1946 in Pifas bei Landsburg geborenen Musikers, denn seine Musik beschreibt Bekenntnismusik und nur eine durchlebte und durchlittene Note schafft es aufs Papier – dafür dann direkt auf die Folien für die Druckvorlagen. Zunächst studierte Winbeck Klavier und Dirigat, wechselte 1969 in die Kompositionsklasse von Harald Genzmer, dessen Unterrichtsweise ihm jedoch zu beschneidend erschien. So wechselte er in die sich mehr mit der Neuen Musik auseinandersetzende Klasse von Günter Bialas. Die Nachkriegsavantgarde interessierte Winbeck, ohne dass er sich mit ihr hätte identifizieren können und so kam der entscheidende Impuls von Wilhelm Killmayer, dass Tonalität und Moderne sich nicht auszuschließen haben, sondern einen Dialog führen können.
Dabei sei das Wort Dialog wörtlich gemeint, denn Winbeck verwies in nahezu jedem seiner größeren Werke auf ihm wichtige Komponisten und Werke, zitierte oder integrierte die Einflüsse, schuf dabei trotzdem keine epigonalen Klischees, sondern schrieb ganz und gar vorwärtsgewandt. Die Musik erscheint wie im Gespräch mit den Kollegen vergangener Epochen. Vor der Öffentlichkeit blieb Winbeck zeitlebens recht zurückgezogen, er komponierte in Abgeschiedenheit und mied auch sonst größere Ansammlungen. Ab 1980 wirkte er als Kompositionslehrer. Als Heinz Winbeck 2019 in Regensburg verstarb, blickte er zurück auf fünf Symphonien, mehrere große Orchesterwerke, einen Liedzyklus und mehrere Kammermusikwerke, vor allem Streichquartette.
Die Lebensstürme entstanden gegen Ende der 2000er-Jahre aufgrund verschiedener Einflüsse: Choreograph Jochen Ulrich wünschte sich ein Tanztheaterprojekt auf Basis von Schuberts Winterreise, Dirigent Dennis Russell Davies wollte den Streicherstücken originale Schubert-Lieder beigemischt wissen – und Ulrich fügte hinzu, dass eine lebenszugewandte Musik als Hinführung zur dramatisch-düsteren Winterreise dienen solle. Da ihm in der Auswahl und Konzeption sonst freie Hand gelassen wurde, sagte Winbeck gerne zu und schrieb einen Zyklus für Streicher, Horn und Baritonstimme mit Aufgriff originaler Schubert-Lieder in eigener Orchestration sowie mit Anlehnungen an die Lebensstürme und das Rondeau brillant sowie Der Tod und das Mädchen. Doch statt eines Potpourris entstand ein in sich funktionierendes und eigenständig modernes Werk, das die Handschrift Winbecks trägt. Die Melodien Schuberts dienen lediglich als Fundament, als Knochen, über denen sich das Fleisch der Komposition entfaltet. Winbeck lässt die Lieder in ganz neuem Glanz erstrahlen durch gekonnte, subtile Instrumentierungen, kommentiert und erweitert sie durch die reinen Orchesterstücke und treibt sie immer wieder ans Limit zwischen absoluter Lebenslust, Resignation und Verzweiflung. Die Musik erscheint luzide durchgehört wie auch klar in der Aussage ohne jegliche überflüssige Note, dabei doch stellenweise geballt verdichtet für besondere Momente, wo auch die tonale Bindung an Grenzen getrieben wird, ohne willkürlich zu zerfasern.
Die Aufnahme entstammt einem neu gemasterten Konzertmitschnitt von 2012 mit dem Basel Symphony Orchestra und Dirigent wie Solisten der Uraufführung: Dennis Russell Davies, dem Bariton Martin Achrainer und Maki Namekawa am Klavier. Dank dem ausführlichen Booklet von Norbert Florian Schuck erfahren wir fundiert über Leben und detailliert auch Schaffen von Heinz Winbeck. Eine vollkommen gelungene Aufführung, die genauso individuell auf die Musik eingeht, wie Winbeck selbst und nicht zwischen „alt“ und „neu“ aufspalten will, sondern die Musik so betrachtet und umsetzt, wie sie ist.
Klassik Heute
Der Komponist Heinz Winbeck (1946 -2019) stand Zeit seines Lebens nicht so sehr im Rampenlicht – vermutlich, weil er sich den zeitgeistigen Moden verweigerte, sich dafür aber umso kompromissloser der Wahrheit der eigenen inneren Empfindungen stellte. Seine orchestrale Bearbeitung von Franz Schuberts Lebensstürme-Zyklus ist jetzt auf CD erschienen und lässt Vergangenheit und Gegenwart in einem großen Spannungsbogen zusammenfließen. Die Innenwelt, in der es auch stürmisch zugeht, war auf jeden Fall Heinz Winbecks Sache, wie er es selber zum Ausdruck brachte: „Ich bringe buchstäblich nur das zu Papier, das, würde ich es nicht tun, mich zersprengte.“
Die Aufnahme, erschienen bei Sonus Eterna, dokumentiert eine Aufführung, die unter der Leitung von Dennis Russell Davies mit dem Basel Sinfonieorchester und dem Bariton Martin Achrainer eingespielt wurde. Im Mittelpunkt des Programms steht der ursprünglich für vierhändiges Klavier komponierte Sonatensatz Lebensstürme (D 947), den Winbeck für Orchester neu arrangiert hat. Ergänzt wird diese Orchestrierung durch das Klavierstück Rondeau brillant (D 823) sowie durch einige Tänze. Vor allem aber bereichern ausgewählte Lieder von Franz Schubert die Dramaturgie, darunter Im Abendroth, Sehnsucht, An mein Herz, Waldesnacht und Herbst.
Wesensverwandschaft
Musik als Metapher für den inneren Aufruhr und für die unausweichlichen Kämpfe des menschlichen Daseins – solche Assoziationen beim Hören belegen die Wesensverwandtschaft zwischen dem großen Romantiker Franz Schubert und Heinz Winbeck, eine der herausragenden, wenn auch „stilleren“ Stimmen der Nachkriegsmoderne. Klar erkennbar ist Winbecks zentrales Anliegen, Schuberts Musik in seiner eigenen Tonsprache zu reflektieren, ohne dabei der Versuchung zu erliegen, die Original durch moderne Effekthascherei anzutasten oder geschmäcklerisch zu verwässern. Im Gesamtkontext gelingt es somit, der Schubertschen Ausdruckswelt neue, heutige Kontexte hinzuzufügen bei Erhaltung und Bekräftigung des Wesenskerns.
Eigene Diktion
Nur sparsame zusätzliche Instrumentierungen erlaubte sich Winbeck in den Liedern. Umso mehr gestalterische Wucht entfalten die neuen Zwischenspiele als inszenierte Stimmungswechsel als Übergänge in etwas anderes, vielleicht emotional Konträres. Was Schubert oft mit ganz zarten Tonartenwechseln hinbekommt, beantwortet Winbeck in einer eigenen betont orchestralen Diktion, zu der abrupte rhythmische Wechseln und auch dissonante Harmonieverläufe, mit denen Schubert „weitergedacht“ wird, als Stilmittel fungieren.
Ein herausragendes Beispiel dafür ist gleich der zweite Track auf dieser CD, eine Fuge, welche Winbeck als Bindeglied zwischen dem Lied Oh wie schön ist deine Welt und dem beklemmenden Die Scheibe friert kreiert hat. Getrieben von drängenden Synkopen und einem subtilen Schlagwerk, baut sich immer mehr dramatische Spannung auf, die schließlich in einem mächtigen Orchestercrescendo alles zu verschlingen droht. Winbeck erweiterte Schuberts Lebensstürme nicht nur durch selbst komponierte sinfonische Intermezzi, sondern ergänzte das Programm um weitere Schubert-Kompositionen, darunter ausgewählte Lieder und das Rondeau brillant (D 823).
Tiefgründige emotionale Struktur
Die Interpretation des Basel Sinfonieorchesters unter Dennis Russell Davies bringt sämtliche feinen Schichten der Komposition meisterhaft zur Geltung. Davies, ein Dirigent, der Winbecks Werk wie kaum ein anderer versteht, hebt die subtile Dramaturgie und die tiefgründige emotionale Struktur der Musik hervor. Der Bariton Martin Achrainer trägt maßgeblich dazu bei, dass die emotionale Kraft des Werkes unmittelbar spürbar wird. Beeindruckend sind immer wieder jene Momente, in denen nach mächtigem Orchestertutti plötzlich wieder die Hörbühne allein für diesen strahlkräftigen Sologesang bereitet ist, der mit vielen emotionalen Farben gepaart mit bestechender Klarheit für vokale Überzeugungskraft sorgt.
Die Lebensstürme-CD kann als idealer Hör-Einstieg fungieren, um von hier aus tiefer in das Œuvre dieses Komponisten vorzudringen. Der einfühlsam und kenntnisreich geschriebene Booklet-Text von Norbert Florian Schuck bietet eine weitere informative Hilfestellung, ebenso wie die Cover-Fotos mit ihrer einsamen, kargen Winterlandschaft und dem etwas „verwunschen“ anmutenden Haus des Komponisten das hier mit allen Sinnen spürbare künstlerische Anliegen versinnbildlichen.
Stefan Pieper [23.08.2024]